#749 Objektive Wahrheit im Strafverfahren? Ein Blick in die Psychologie der Urteilsfindung
Was passiert in einem Strafverfahren eigentlich wirklich?
In diesem Podcast denkt Duri Bonin über diese essentielle Frage nach. Er überlegt sich, wie unser Gehirn Wirklichkeit konstruiert, wie kommunikative Erinnerungen entstehen und weshalb das Strafrecht nie einfach mit „objektiven Fakten“ arbeitet, sondern immer mit gedeuteten Spuren und erzählten Geschichten.
In dieser Episode geht es unter anderem um die Fragen
- warum Strafverfahren rückwärtsgewandte Rekonstruktionen sind – und was das konkret für Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte und Verteidigung bedeutet
- weshalb Spuren, Zeugenaussagen und Dokumente allein noch keine Geschichte erzählen
- wie unser Gehirn aus Bruchstücken eine scheinbar stimmige Wirklichkeit bastelt
- was man mit kommunikativem Gedächtnis meint und warum Erinnerungen in Familien, Gruppen und Medien immer miterzählt werden
- wie ein einfacher Verkehrsunfall zeigt, dass der erste Eindruck vom Tatgeschehen die ganze innere Landkarte bestimmt
- warum wir Plausibilität mit Wahrheit verwechseln und weshalb das im Strafverfahren brandgefährlich ist
- wie Alltagstheorien wie „Typisch, der war schon immer so“ unsere Wahrnehmung und Entscheidungen beeinflussen
- weshalb Erfahrung in Strafverfahren nicht nur schützt, sondern auch blenden kann
- und wieso wir eine Strafjustiz brauchen, die nicht nur Fälle prüft, sondern ihre eigenen Denkprozesse reflektiert.
Die zentralen Konzepte dieser Episode sind
- Rückwärtsgewandte Rekonstruktion: Strafverfahren versuchen, vergangene Ereignisse aus Spuren, Erinnerungen und Dokumenten zu rekonstruieren – immer mit Lücken, immer aus der Gegenwart heraus.
- Kommunikatives Gedächtnis: Erinnerungen entstehen und verändern sich in der Kommunikation. Was Zeugen, Opfer oder Beschuldigte „wissen“, ist immer auch das Ergebnis dessen, was rundherum erzählt wurde – in Familien, in Gruppen, in Medien.
- Plausibilität vs. Wahrheit: Eine Geschichte kann sich perfekt stimmig anfühlen und trotzdem falsch sein. Unser Gehirn liebt Kohärenz und verwechselt sie oft mit Wahrheit.
- Zwei Denkarten: Schnelles, intuitives Denken (Bauchgefühl, Routine) vs. langsames, reflektiertes Denken. Gerade im Strafverfahren arbeiten Menschen oft im schnellen Modus – unter Zeitdruck, medialem Druck, hoher Fallbelastung.
Diese Folge ist spannend für Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger, die verstehen wollen, wie stark psychologische Mechanismen das Verfahren prägen. Für Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, die ihre eigene Fallwahrnehmung kritisch reflektieren möchten. Für Richterinnen und Richter, die sich mit kognitiven Verzerrungen im Gerichtssaal auseinandersetzen wollen. Für Polizistinnen und Polizisten, die wissen möchten, wie Berichte, erste Eindrücke und Zeugenbefragungen Wahrnehmung formen. Für Studierende von Strafrecht, Psychologie, Kriminologie, Soziologie – und für alle interessierten Laien, die schon immer ahnten: „So einfach ist das mit der Wahrheit im Strafverfahren nicht.“
Konkrete Fragen, die in diesem Podcast gestreift werden
- Was heisst es genau, wenn man sagt: „Das Strafverfahren ist eine Rekonstruktion“?
- Wie entstehen innere Bilder von Täter, Opfer und Tat – und warum bleiben sie so hartnäckig?
- Wieso ist eine Zeugenaussage nie einfach ein „Abspielen der Vergangenheit“?
- Wie mischen sich eigene Erlebnisse, Medienbilder und Familiengeschichten in eine Erinnerung?
- Warum wirkt die Geschichte „Er hat es wieder getan“ so plausibel – und wie kann man sich dagegen wehren?
- Weshalb hilft es nicht, einfach „objektiv“ sein zu wollen, wenn das Gehirn ganz anders arbeitet?
Viel Spass beim Hören – und vielleicht auch beim produktiven Zweifeln.
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